Letzten Februar kam mir beim Skifahren auf dem Feegletscher
im Wallis die Idee, die umliegenden 4000er zum Ziel einer ausgiebigen Grattour
zu machen. Mit Gero Achtenhagen fand sich ein Partner, den das Projekt auch
begeisterte. Ende August sitzen wir zu zweit in Saas Grund auf einem Zeltplatz
und hören den Regen auf's Autodach prasseln, wir entscheiden uns trotzdem,
morgen auf jeden Fall aufzusteigen.
Über Plattjen gehen wir zur Britannia-Hütte, eine gute Wahl, denn
der Feegletscher und sein Vorfeld sehen im Sommer aus wie eine russische Pipelinebaustelle.
Die Hütte wird, wie wir wußten, um- und ausgebaut und ist deshalb
geschlossen, am Sonntag Nachmittag hindert uns aber niemand daran, die Baustelle
zum Quartier zu nehmen. Richtig früh kommen wir nicht aus den Federn, so
treffen wir noch, ohne Ärger, mit der anrückenden Maurerkolonne zusammen.
Bei bestem Wetter queren wir den Hohlaubgletscher und nehmen den gleichnamigen
Grat auf's Allalinhorn (4027 m) in Angriff. Der Aufstieg klappt bestens, nur
werden wir ab 3500 m in dichten Nebel gehüllt, bald stehen wir etwas überrascht
vor dem felsigen Gipfelaufbau, so schnell hatten wir ihn noch garnicht erwartet.
Angeblich ist er IIer Gelände, doch wir stellen uns mit unseren schweren
Rucksäcken nicht besonders elegant an. Am Gipfelkreuz halten wir uns nicht
lange auf, denn das Wetter verschlechtert sich zusehens und wir begeben uns
auf dem breit ausgelatschten Normalweg talwärts. Eigentlich wollten wir
im Feejoch biwakieren, doch der Sturm treibt uns zur Métro Alpin hinunter.
Ein unfreundlicher Schaffner versucht uns dort zu nötigen, ihm ein Ticket
abzukaufen und noch weiter abwärts zu fahren - kurze Auseinandersetzung
und wir lassen ihn abfahren. Trotzdem gemütlich wird es nicht, alle Türen
sind verschlossen und ein ordentliches Schleppdach hat man vergessen anzubauen.
Umso größer ist die Freude als Gero einen Pistenbully mit großer
und unverschlossener Fahrgastkabine entdeckt. Richtig behaglich werden Abend
und Nacht, aber draußen tobt ein Schneesturm wie im Winter und wir fragen
uns was wir morgen machen sollen - aufsteigen, warten oder absteigen?
Doch den Seinen gibt's der Herr im Schlaf, bei schönstem Sonnenschein steigen
wir wieder zum Feejoch auf, weiter geht es Richtung Alphubel (4206 m) über
den Südostgrat. Die Felspassage zum Feechopf läßt sich locker
klettern, wir sind guter Dinge und loben unser spätes Aufstehen, das uns
eine prima Spur beschert hat, die die Kurzschläfer mühsam stapfen
mußten. Es ist nochnichteinmal zwölf als der Himmel sich wieder bezieht
und wir uns noch an der "Eisnase" schaffen müssen. Von Gipfelrast
kann kaum eine Rede sein, weil der "Gipfel" sowenig markant ist und
wir uns auch kaum Zeit dafür nehmen, denn wir wollen noch zur Biwakschachtel
ins Mischabeljoch, jedoch finden wir in der Milchsuppe und ohne Spur nicht den
Nordgrat, der uns dahin führen soll. Vernunft siegt über Ehrgeiz,
wir entscheiden uns nach Längflue über den Normalweg abzusteigen und
gehen wieder nach Süden. Da steigt eine Spur in die entgegengesetzte Richtung
etwas ab - also ist doch eine Seilschaft unsere Route vorausgegangen. Hinterher,
aber diejenigen sind leider auch nur einen Kreis gegangen, einen Versuch war's
wert, doch jetzt runter wie beschlossen.
Als wir wieder auf dem Südgipfel stehen ist zum Nebel noch Schneetreiben
dazugekommen, wir sehen reineweg garnichts, auch keine Spuren - bei diesen Bedingungen
absteigen, wo der Führer so vor den Orientierungsproblemen warnt? Wir brauchen
uns nicht zu streiten, beide sehen wir, daß es nur einen sinnvollen Entschluß
gibt, nämlich hier oben zu biwakieren. An einer nicht ganz so windigen
Ecke beginnen wir zu graben, nach vollbrachtem Werk und durchnäßt
vom Schneeregen werfe ich den Kocher an, Tee und Suppe wärmen aber nicht
ewig, darum will Gero sich nochmal warmschaufeln. Kaum haben wir damit begonnen,
kommt ein weiterer Grund dazu, das Schneeloch in Richtung Schneehöhle zu
erweitern: Wind und Schnee frischen zu einem formidablen Unwetter auf. Zum lehrbuchreifen
Abschluß gelangt die Baumaßnahme nicht, zu vereist sind die alten
Firnschichten. Dafür gibt es jetzt einen Dissens, ich will im Biwaksack
schlafen aber Gero will ihn über das Loch spannen - er setzt sich durch.
Gero hat mehr gebuddelt als ich und nimmt sich den hinteren Platz, ich krieche
am Eingang in meinen Schlafsack.
Komfort habe ich ja nicht erwartet, trotzdem bin ich irritiert über die
kriechende Kälte, bis ich merke woran es liegt: Der Schnee pfeift prima
in die Rillen meiner Ridge-Rest-Matte und taut dann unter mir. Die Schlafsackunterseite
ist hüftabwärts klitschnaß. Fortan bin ich, weitestgehend erfolglos,
bemüht, Gesäß und Füße auf meinen Innenschuhen zu
plazieren, um nicht in der kalten Nässe liegen zu müssen. Irgendwann
nach halb vier dämmer ich doch noch ein wenig weg und Gero ist heilfroh,
als ich mich gegen Morgen wieder bewege. Ansonsten besteht wenig Grund zum Frohsinn,
kein blauer Himmel wie sonst in der Frühe, dafür aber zwanzig Zentimeter
Neuschnee auf unserem "Dach".
Wir beschließen unsere Aufstiegsroute abzusteigen, weil wir hoffen, den
bekannten Weg auch trotz des Nebels zu finden. Die vereiste Steilstufe sichere
ich Gero hinunter. Ich traue mir zu, hier frei abzuklettern, drehe die Schraube
heraus, lasse das Seilende Richtung Gero verschwinden und will noch etwas queren,
weil weiter rechts das Gelände nicht so steil erscheint. Unvermittelt rutsche
ich auf einmal talwärts und es will mir nicht gelingen, mich auf den Bauch
zu drehen, weil mein rechtes Bein angewinkelt blockiert ist. Bevor ich mir das
Malheur erklären kann und richtig Tempo für die Schußfahrt nach
Saas Fee aufnehme, greift Gott sei dank irgendwie der Pickel. Verwundert muß
ich feststellen, daß sich die hintersten Zacken des rechten Steigeisens
in einer kurzen Schlinge, die ich gedankenlos hinten an meinen Sitzgurt geknüpft
hatte, verheddert hatten und mich so beim letzten Schritt in die Rückenlage
beförderten.
Wir wühlen uns den Grat langsam abwärts und freuen uns über die
allmähliche Wetterbesserung, als etwa einen Meter vor mir völlig geräuschlos
ein fußballfeldgroßes Schneebrett gen Längflue abgeht. Auf
der Hochfläche des Alphubeljochs setzen wir uns auf unsere Rucksäcke
und versuchen ein Wolkenloch herbeizufluchen, die Sicht ist wieder auf 20 Meter
geschrumpft. In der Hoffnung mit Kompasshilfe und der manchmal aus dem Nebel
auftauchenden Schemen die richtige Richtung einzuschlagen, stapfen wir gen Feechopf
los. Trotzdem wir uns alle hundert Schritte beim Spuren abwechseln, kommen wir
nur langsam vorwärts, finden auch nicht den kürzesten Weg, aber erreichen
wenigstens irgendwann den Felskopf. Die frisch verschneite Kletterstrecke wird
nochmal mächtig heikel. An ihrem Ende können wir dann aber schon den
Abstieg ins Feejoch und zur Métro sehen. Erleichtert stellen wir fest,
daß das Gröbste wohl geschafft ist; keine zehn Schritte weiter wühlt
sich Gero schimpfend aus einer Spalte heraus, also weiter schön vorsichtig
bleiben.
Noch rechtzeitig vor Küchenschluß erreichen wir das Drehrestaurant
auf dem Mittelallalin und genehmigen uns zur Feier der geglückten Rückkehr
ein sündhaft teures Essen.
Olaf Hampe
(aus: Die Kletterpatte 4/1996)