Sellagruppe & Co.

Ein Sommer Abstinenz wegen einiger Schneeabenteuer reicht, die Dolomiten locken wie immer und Lars Streblow und ich machen uns Anfang August auf den Weg nach Norditalien. Bequem zum Einklettern, wir wissen noch nicht, daß wir in anderen Gebieten nicht so recht zum Zuge kommen werden, ist die Sellagruppe; durch den neuen AV-Führer zudem sehr gut beschrieben. Als Ausgangspunkt müssen wir den Zeltplatz in Campitello wählen, da in Canazei Überfüllung herrscht, hier wie dort haben sich die Preise seit '95 aber fast verdoppelt.
Unsere Eingehtour, der Kieneriß (oder auch Diagonalriß) auf den Hauptgipfel der Fünffingerspitze (370 Höhenmeter, V-) mit zwei ziemlich überhängenden Rißeinstiegen überrascht uns gleich damit, daß wir in der vom Führer veranschlagten Zeit (vier Stunden) bleiben, zum Ausgleich wird der Abstieg dann erstaunlich mühsam und verlangt, zumindest für uns, stellenweise nach Sicherung. Das nächste Ziel ist die "Vinatzer" auf den Dritten Selllaturm, ein klassische Route, die uns reizt. Nach nicht unattraktiven Fünferseillängen verrät uns ein heimischer Bergführer, daß die Schlüsselstelle clean nicht die avisierte V+, sondern ein Sechser sei. Der Mann hatte recht, wie ich schmerzlich erfahren mußte; aber zum Glück ist Lars ja dabei, der nach dem von mir erkämpften Fingerriß, den Überhang, der mich abweist, locker bringt.
Starker Regen hält uns am nächsten Tag dann im Tal fest und wir machen einen schwerwiegenden Fehler, indem wir ebenso an unserer Planung festhalten. Die Nordwestwand der Pordoispitze ist ein durchaus einducksvolles Ziel: 880m von unten bis oben, praktisch senkrecht mit einem großen Band in dreiviertel der Höhe. Doch wir fehlinterpretieren die Sprache der Kletterführer, "bei Regen machen sich die Wasserfälle ungemütlich breit" steht in dem einem, doch wir haben keinen Regen (mehr); daß der Fels auch nach längeren Schönwettterperioden noch "wasserüberronnen" sei, verspricht der andere, so ein bißchen nassen Fels denken wir, abkönnen zu können, zumal wir ja nicht die "Via Niagara" sondern nur die "Fedele" (IV+) vorhaben: Die ersten 200m gehen wir frei, dann kommte ein "Zweier" (haha)- Quergang und uns wird feucht - wieder ausbinden und Regenklamotten an. Fortan geht die Lucie ab, ständig im Nassen, oft richtig im Wasser, nach der lt. Topo 14. Seillänge wird die Originalroute wegen Ertrinkungsgefahr unbegehbar und wir weichen aus dem Wasserfallriß in die Wand aus, Lars schleicht bemooste und beflechtete Platten aufwärts und macht irgenwo einen recht fragwürdigen Stand. Zunächst gehe ich weiter hoch und treffe doch tatsächlich noch einen Haken im völlig zersplitterten Fels, hier sind also schon andere dem Wasser geflüchtet, doch die Wand geradeaus weiter sieht mir ungangbar aus, also nach rechts zu unserem Originalriß: Diese acht Meter werde ich sobald nicht vergessen: 10 Meter unter mir steht Lars an seinem obskuren Stand, ich habe nur einen alten Haken in unzuverlässigen Fels als Zwischensicherung und schiebe mich zentimeterweise nach rechts, alles ist brüchig und für die Hände nur nach abwärts geschichtete Schuppen. Irgendwann kommt die Kante und ich stehe glücklich in unserem Wasserfallkamin, schnell hoch, doch irgendwann kommt "Seil-Aus". Pech, ich muß an der rechten Kante des Kamins nachholen und werde dabei gut befeuchtet. Prinzipiell sind wir orientierungsmäßig trotz aller Wiedrigkeiten richtig, wir sehen von meinem feuchten Stand aus auch den Weiterweg ("bei Hangelriß nach links"), sind aber davon durch den Wasserfall getrennt. Die Lösung des Porblems war Larstypisch: Sprung. Als ich durchgefroren und entnervt auf dem großen Querband ankam, war mir der letztendliche Ausstieg aus der NW-Wand über den Normalweg so egal, daß ich ohne Nachdenken über Gipfel"sieg" o. ä. gen Tal trottete.
Diese Gleichgültigkeit hielt zum Glück nicht lange an und wir erkunden den Saas di Ciampac, nahmen auf dem Hinweg zu diesem aber noch die "Trenker" auf den Ersten Sellaturm mit. Eine sehr zu empfehlende Kurztour, 180m (5 Seillängen), 90 Minuten, V+ und keineswegs so "höllisch poliert" wie im Führer annonciert. Auch die "Alte Südwand" (V) am Ciampac wurde ein reiner Genuß, wir zelteten idyllisch auf den Wiesen unterm Einstieg und konnten uns anderntags an 500 Metern gut griffigen und gut abzusichernden Verschneidungen erfreuen.
Danach sollte es ein Klassiker sein und der wurde nicht so erfreulich. Der Normalweg durch die Südwand der Marmolada auf die Punta Penia ("Tomasson", IV+) verlangt zunächst den hammerharten Aufstieg zum Ombretta-Paß, spielt sich dann in ungemütlich engen Kaminen ab, wird ab halber Wandhöhe verdammt brüchig und offeriert dann einen fast endlosen Abstieg.
In Cortina warten wir bei Dauerregen ein paar Tage vergeblich auf eine Wetterbesserung und mußten die Drei Zinnen schon zum zweiten Mal unbestiegen lassen. Die Hoffnung auf Sonnenschein weiter im Süden trog nicht, am Gardasee ließ sich klettern. Nach einer kurzen 6er Reibung am Monte Baone trauen wir uns die "Similaum" 6a, 400m an den Sonnenplatten zu, lohnend und sehr schön. Der Colodri direkt über dem Zeltplatz hatte mich bisher immer abgeschreckt, diesmal wollen wir es wissen und es gelang auch über die "Somadossi" 5+/A0, durchgehend ziemlich schwer und anstrengend und zum Urlaubsende nochmal einen ausgeprägten Muskelkater hinterlassend.

Olaf Hampe
(aus: Die Kletterpatte 3/1997)