Im zweiten Versuch

Dirk und Jens sind schon Richtung Heimat abgereist, als Dietrich Knorr und ich nochmals zum höchsten Gipfel Perus aufbrechen. Mit den Erfahrungen des ersten Anlaufs wollen wir unsere Taktik etwas verändern, das klappt schon in Musho nicht ganz: Es erweist sich als unmöglich, Esel zur Huscaran-Hütte anzumieten. Kein Eseltreiber darf/kann/will dorthin; Grund scheinen Differenzen zwischen der Nationalparkverwaltung und den hüttenbetreibenden Italienern, wohl wegen der drohenden Überflüssigkeit von Trägern, zu sein (eine sehr schwache Auslastung der nagelneuen Hütte "Don Bosco" ist die Folge). Die geplante Abkürzung ist somit sofort perdu und wir gehen, wie die allermeisten anderen, Richtung übliches Basecamp (4200m), während zwei Esel unser Gepäck dorthin tragen. Zeitig sind wir im BC, zelten nicht dort, sondern steigen noch eine gute Stunde weiter, dort oben ist mir noch eine Lagermöglichkeit erinnerlich. Die Rucksäcke drücken erbärmlich beim Aufstieg über die gletscherpolierten Felsplatten; in Gedanken sortieren wir schon (vermutlich) Entbehrliches aus, das in der Hütte deponiert werden soll.
900 Höhenmeter hat die nächste Etappe bis zum Lager 1, wir lassen uns Zeit, trocknen unser Zelt in der Sonne und starten um neun. Just bei Erreichen der Hütte trifft dort von oben kommend eine Bergungsgruppe ein, die einen Mexikaner abtransportiert. Es beruhigt mich in keiner Weise, dass es kein Unfall war, sondern er im Camp 2 an einem Ödem oder Infarkt starb. Erst am Alpamayo die vielen Toten und nun auch hier - mir vergeht jegliche Lust und ich will eigentlich nicht mehr hoch. Dietrichs Elan ist aber ungebrochen und so machen wir weiter.
Anderntags um sechs beginnt der spannendere Teil des Aufstiegs; es geht durch Gletscherbruch gen Lager 2. Beängstigend dünne Schneebrücken über grundlosen Spalten, drohend geneigte Seracs und aus der Höhe grüßende Eisbalkone lassen uns eilen: Bevor die Sonne kommt, hier möglichst raus sein! Die technischen Schwierigkeiten sind moderat, längere Passagen ungefähr 50°, nur an einigen Spaltenübergängen deutlich mehr. Auch gelingt uns die Orientierung, anders als vor einer Woche im Dunkeln, einwandfrei.
Lager 2 befindet sich in der Garganta, dem breiten Sattel zwischen Nord- und Südgipfel auf etwa 6000m. Kaum steht unser Zelt, fängt es an zu hageln, um halb sechs ist daraus dann Schneefall geworden. Dieser wird wohl die Spur verwehen, weshalb wir erst im Hellen losgehen wollen. Kurz vor zwei werden wir durch Radau wach - eine Gruppe Franzosen macht sich abmarschfertig. Da wird uns somit eine frische Spur offeriert und wir werfen den Kocher an.
Der Mond ist gerade untergegangen und die Nacht allerfinsterst als wir aufbrechen. Dank der Vorausgehenden finden wir problemlos durch die Bruchzone, die sich mit einer recht steilen Passage verabschiedet. Dann beginnt die Stapferei über mäßig geneigte, aber fast endlose Hänge zum Gipfel. Der Schneefall verstärkt sich, das Steigen wird mühsamer. Zum Glück haben Führer den Weg mit Markierungsfähnchen versehen. Als es letztmalig etwas aufreißt, kann ich den Nordgipfel schon unter mir erkennen. Das Wetter wird noch mieser. Von jedem exponierten oder andersfarbigen Fähnchen erhoffen wir den Gipfelpunkt. Irgendwann erkennen wir, dass seitlich keine Hänge und Grate mehr hochziehen. Dann kommen zwei Fähnchen auf gleicher Höhe und ich verkünde, dies sei der Gipfel. Dietrich will sich noch vergewissern, doch ich setze durch, sofort umzudrehen. Zu spät. Alsbald ist die Spur völlig vom Neuschnee verblasen und besteht keine Sicht mehr zur nächsten Markierung. Es wird immer übler, dann stehen wir im perfekten whiteout.
Nur die Ruhe! Warten (quälend lange) bis irgendwann aus dem Nebel eine Markierung auftaucht, anpeilen, hin und das nächste Nebelloch herbeisehnen. Langsam tasten wir uns herunter. In der Bruchzone wird unser Optimismus auf eine harte Probe gestellt: Der Weg von Schnee und Nebel verschluckt, auf Markierungen kaum zu hoffen. Warten. Warten. Ich sehe deutlich ein Biwak kommen - das wird ungemütlich: Der Biwaksack im Tal, Daunenjacke in der Hütte, Schaufel und Schlafsack in Lager 2, dafür sind wir aber noch deutlich über 6000m.
Irgendwann reißt es etwas auf, wir kommen tiefer und damit aus den dicksten Wolken raus, sehen dann ganz allein im fernen Camp 2 mein Zelt! 17.40 Uhr sind wir dort (kurz nach sechs ist es dunkel).
Anderntags grüßt uns blauer Himmel, die Spur zum Lager 1 ist nur manchmal noch zu sehen, doch bei bester Sicht finden wir den Weg. Der Abstieg bis nach Musho ist genauso so lang, wie es die 3000 Höhenmeter versprechen, doch uns locken wichtige Vorhaben nach Huaraz: 1. Cerveza 2. Pisco Sour 3. Picante de Cuy.

Olaf Hampe